Wenn ich mir ein Gedicht anschaue, gibt es bei mir häufig zwei Reaktionen. Die erste genießt das Gedicht, bewertet seine Schönheit anhand meiner Wahrnehmung und baut abschließend ein Verständnis für den beschriebenen Moment auf. Die zweite versucht sich an einer inhaltlichen Analyse. Stimmt meine Wahrnehmung überhaupt? Ist meine Interpretation wahrscheinlich? Und woher nehme ich eigentlich diese Sicherheit?
Diese zweite Reaktion löst in mir ständig eine Diskussion aus: Vervollständige ich eigentlich ein Werk, wenn ich mehr Informationen darüber erhalte? Und meine Antwort darauf ist dann meist: Ja, natürlich. Aber dann sofort auch: Kann ich diesen zusätzlichen Informationen überhaupt vertrauen? Und sobald ich einem Menschen zum ersten Mal ein Gedicht zur Interpretation vorlege, woher soll ich denn überhaupt wissen, dass dieser Mensch den Inhalt des Werkes erkennt?
Dann wird sich plötzlich auf diesen Menschen bezogen, weil er Argumente für seine Überzeugungen gebracht hat. Aber eigentlich besteht doch immer noch die Möglichkeit, dass er sich irrt. So ganz grundlegend. Ein Beispiel: Vielleicht ist es eben kein Gedicht über den zweiten Weltkrieg, nur weil die Autorin Erfahrungen im zweiten Weltkrieg gesammelt hat und es um Panzer geht. Vielleicht ist es lediglich eine Erinnerung an ihre Kindheit, die sie verarbeitet, weil ihr Bruder ihr ständig den Spielzeugpanzer gestohlen hat.
Vielleicht stimmt aber auch beides nicht. Intepretationen scheinen keine Fakten zu produzieren. Sie vermitteln uns vielmehr Wahrscheinlichkeiten, die mit Argumenten vorgebracht werden und die unsere Fantasie beliebig anregen sollen. Oder worum geht es bei Interpretationen? Um Wahrheit? Um den objektiven Kern einer Botschaft? In den Geisteswissenschaften erscheinen mir diese Ziele als unerreichbar, weil die Subjektivität einer Wahrnehmung unsere Erfahrungen prägt. Und natürlich treten bei genügend Überprüfungen bestimmte Muster auf. Aber ist es dann nicht sogar kontraproduktiv, dass wir uns vorher über diese Muster informieren, damit wir zu einem besseren Verständnis eines Textes gelangen? Reproduzieren sich dadurch nicht einfach nur diese Muster und unser objektives Verständnis des Textes bleibt auf der Stelle?
Ist es also sinnvoll, sich vorher über einen Text zu informieren? Wenn wir uns statistisch dem Kern eines Textes annähern wollen, dann würde ich wohl nun eher zu einem Nein tendieren, weil wir sonst lediglich das reproduzieren, was bereits durch Autoritäten verbreitet wurde. Aber es erscheint mir gleichzeitig auch generell ungeeignet, eine statistische Herangehensweise zu bevorzugen. Denken wir mal kurz über die Folgen nach:
Wir nehmen uns ein Gedicht aus dem 11. Jahrhundert, das der Großteil der Testpersonen nicht versteht, weil es in Mittelhochdeutsch geschrieben wurde und die Wörter teilweise vollkommen andere Bedeutungen besitzen. All diese Menschen sollen jetzt eine Interpretation für dieses Gedicht abgeben, was dazu führt, dass der objektive Kern des Gedichtes rein statistisch wahrscheinlich dem kulturellen Verständnis eines Menschen aus dem 21. Jahrhundert entspricht.
Aber wie können wir uns sicher sein, dass das nicht bereits mit allen anderen Interpretationen geschehen ist? Wir haben zum Beispiel eine Interpretation eines Kant-Werkes aus dem 19. Jahrhundert, die vollkommen banale gesellschaftliche Fakten hineinbringt, die nichts mit dem ursprünglichen Text zu tun haben. Aber diese Interpretation setzt sich durch und beeinflusst die Interpretationen des 21. Jahrhunderts.
Doch was bleibt dann noch übrig? Es erscheint erneut dieses merkwürdige Kommunikationsparadoxon. Wir sprechen durch unsere subjektive Wahrnehmung eine andere Sprache mit anderen Wahrnehmungen von Wörtern. Und zum Schluss verstehen wir uns trotzdem. Wie kann das sein? Sind unsere Wahrnehmungen dann doch so ähnlich?
Zwei weitere Aspekte dieser Untersuchung sind für mich Kontext und Konkretheit. Ein Beispiel: Ein gezeichnetes schwarzes Dreieck auf einem weißen Grund soll für die
Trinität der christlichen Kirche stehen. Die Botschaft ist ohne Kontext
nicht erfassbar. Soll die Botschaft erfassbar bleiben? Oder soll das
Dreieck für sich stehen und als Kunstwerk ohne Kontext betrachtet
werden? Ich denke, dass Werke ohne Kontext
auch weniger Gefühle anregen, da sie keine Zusammenhänge hervorrufen,
die möglicherweise das Einfühlen erleichtern.
Diese Kontextlosigkeit ist
von einer unkonkreten Darstellung zu unterscheiden: Zwar erzeugen abstrakte Techniken aus sich selbst heraus schon weniger Kontext, können aber
genau aus diesem Grund gewählt werden, um die Aufmerksamkeit auf andere
Aspekte zu lenken und den Kontext dieser Elemente zu verstärken. Eine Verwendung unkonkreter oder abstrakter Darstellungsmittel ist damit Bestandteil des Kontextes. In der Fotografie zum Beispiel ein Kontrast zwischen abstrakt texturiertem Hintergrund und einem Porträt im Vordergrund.
Und letztendlich bleibt die Spannung beim Lesen. Autoren tendieren dazu, Werke zu verdichten, um eine Erfahrung greifbarer zu gestalten. Um allerdings dem Werk einen gehobenen Anspruch zu geben und einen Wert zu vermitteln, werden meist mehrere Ebenen miteinander verwoben, was dazu führt, das ein erstes Verständnis erschwert wird, das Gedicht dann aber aufgrund der Anstrengungen beim Verstehen stärker im Gedächtnis bleibt.
Ich kann den Versuch sehr gut nachvollziehen, aber nun ja. Wie bei dem Beispiel mit dem Dreieck kann es eben passieren, dass dadurch der Kontext vollkommen verschwimmt. Und das Dreieck bleibt dann eben Dreieck, und es wird nicht als christliche Trinität verstanden. Und dann denke ich mir: Dann eben nicht. Dann verstehe ich eben nicht, was der Autor von mir wollte und interpretiere es so, wie ein Mensch aus dem 21. Jahrhundert etwas interpretieren würde, was ihm vorgesetzt wird. Ich liefere meine Argumente. Und wenn das jemand anderen dazu bringt, sich mit seinen eigenen Gefühlen zu beschäftigen und ein eigenes Verständnis für sein Leben aufzubauen, cool.
Aber was soll ich denn sonst tun, wenn sich der Autor nicht erklärt? Und selbst wenn er sich erklärt, wie soll ich sicher sein, dass ich ihn dann verstehe? Mir erscheinen diese Probleme unlösbar. Und dann schaue ich auf meine erste Reaktion zurück und freue mich, dass das meine erste Reaktion ist. Keine Frage, die erste Reaktion hat ihre eigenen Probleme mit der Unlösbarkeit einer verständlichen Wahrnehmung. Aber wenigstens kann es da diese kurzen Momente geben, in denen ich diese wunderschönen Blumen genießen kann, ohne sie in ihre Bestandteile zu zerlegen und wissenschaftlich zu analysieren. Und für die zweite Reaktion gebe ich mir eben Mühe, meine Argumente darzulegen und bin für alle weiteren Ansichten offen.
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